Museum
für historische Wehrtechnik

Munition 3

Das französische Artilleriesystem La Hitte

Der Gedanke an gezogene Geschütze ist schon im 17. Jahrhundert aufgetaucht. Ihre Realisierung war jedoch bis Mitte 19. Jh. in technisch brauchbarer Form nicht möglich.
Lange bestand keine Notwendigkeit für eine radikale Modernisierung des Artilleriegeräts. Noch Anfang des 19. Jahrhunderts konnte man z.B. mit der Geschützkartätsche weiter reichen als mit dem damaligen Infanteriegewehr:
Der französische Achtpfünder wirkte ausreichend bis 600 Schritt, entscheidend bis 400 Schritt. Mit Rollschuss erzielte man Reichweiten bis 1800 Schritt. Gewehre dagegen wirkten nur bis 300 Schritt.
Nur ganz wenige Jäger-Einheiten besaßen schon weiter reichende Gewehre mit gezogenen Läufen, die jedoch umständlich zu laden waren
.

Der Fortschritt kam zuerst zur Infanterie: hier vollzog sich zwischen 1840 und 1855 der Übergang vom glatten zum gezogenen Vorderladergewehr. Spezielle Geschosse, z.B. mit der vom französischen Hauptmann Minié erfundenen Expansionsführung, machten die neuen Systeme auch für den gemeinen Soldaten anwendbar.
Zwar blieb die Feuergeschwindigkeit wie vor, Reichweite und Treffgenauigkeit wurden jedoch wesentlich gesteigert. Mit dem 1841 eingeführten Zündnadelgewehr, einem gezogenen Hinterlader, kam ein weiterer Technologiesprung.

In den deutsch-dänischen Kriegen 1848 - 1850 wurden bereits beiderseits Batterien lediglich durch feindliches Infanteriefeuer zum Rückzug genötigt!!!

Daher experimentierten alle Militärs u.a.

mit besserer Glattrohrartilleriewirkung (Sprenggranaten und Bombenkanonen nach dem französischen General Paixhans oder
der Granatkanone des sächsischen Kriegsministers von Rabenhorst) oder
mit Rikochettieren zur Vergrößerung des bestrichenen Raumes, vor allem aber
mit Geschützen mit gezogenenen Rohren:

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Geschosse für gezogene Handfeuerwaffenn

Zentrale Bedeutung für das heutige Geschützwesen hatten der schwedische Geschützgießer Ingenieur Baron Wahrendorff im schwedischen Åker und der sardische Artillerieoffizier Giovanni Cavalli.

Cavalli hatte bereits 1832 in Turin einen gezogenen sechspfündigen Hinterlader herstellen lassen und ohne Erfolg erprobt. 1846/47 erweiterte er die Hinterladerversuche mit gezogenen Rohren und Langgranaten. Seine Geschosse hatten allerdings noch Spielraumführung. Bereits 1847 wurden mit Zügen versehene Bombenkanonen nach dem System von Cavalli in Italien angenommen.

Baron Wahrendorff experimentierte anfangs mit der Anwendung der Hinterladung bei Geschützen zur leichteren Bedienung in gedeckter Aufstellung und bleiüberzogenen Rundkugeln. Um 1848, als Cavalli zur Beaufsichtigung des Gusses von eisernen Geschützrohren für die piemontesische Artillerie nach Åker kommandiert war, nahm er mit diesem die Versuche neu auf.

In Åker, damals einer der berühmtesten Geschützgießereien, hielten sich ständig Offiziere aus vielen Ländern auf zur Abnahme bestellter Geschütze. So wurden die Versuche Cavallis bald allgemein bekannt.

 Artilleriegranaten 1858 - 1880

In Frankreich entschied man sich für die zunächst schneller umzusetzende und einfachere Idee der Spielraumführung Cavallis unter Beibehaltung der Vorderladung. Hauptmann Lepage hatte die Versuche in Åker beobachtet und veranlasste 1848 Versuche mit einem gezogenen Sechspfünder mit Geschossen mit Warzenführung, einem Vorschlag des Gewehrtechnikers Hauptmann Tamisier .
Erst die Entwicklung des Schiebezuges durch Oberst Treuille de Beaulieu, die Gestaltung der Führungskanten und -warzen und die Erhöhung der Zahl der Züge auf sechs ermöglichten 1858 die Einführung des neuartigen Geschützsystems in Frankreich. Es wurde benannt nach General La Hitte, unter dessen Leitung des Prüfungsausschusses die Versuche stattfanden.
Erste klare Erfolge erzielten die Franzosen im Feldzug 1859 gegen die Österreicher in Oberitalien.
 Ihr Sieg wurde vornehmlich den neuen Geschützen zugesprochen
.

12-Pfündergranaten für Vorderlader im Vergleich: die höhere Querschnittsbelastung der Warzengranate  für gezogenes Rohr brachte einen “Quantensprung” in der Ballistik.

oben: Gezogene Vorderlader im Vergleich:

Canon de 4 de montagne
Canon de 4 de campagne
Canon de 12 de place
Canon de 24 de place

Bild links:
Canon de 4 de campagne

Die Geschütze waren meist in Bronze gegossen und hatten in der Regel sechs Züge mit einer steileren Ladekante und der flacheren Führungskante, an die das Geschoss beim Laden infolge Verengung der Zugbreite am inneren Ende gedrängt wurde (Schiebezug).

Frankreich führte die folgenden gezogenen Vorderlader im System La Hitte ein:

Canon de 4, rayé, de campagne (Feldkanone)

Canon de 4, rayé, de montagne (Gebirgskanone)


Canon de 8, rayé, de campagne
(später eingeführt)


Canon de 12, rayé, de campagne

Canon de 12, rayé, de siège (Belagerungskanone)

Canon de 12, rayé, de place (Festungskanone)




Canon de 24, rayé, de siège

Canon de 24, rayé, de place




dazu kamen noch umgeänderte Vorderlader (mit 3 Zügen):

Canon de 30 bzw.
Canon de 16c, Modèle 1820-1840 transformé
Canon de 16c, Modèle 1858 transformé
Obusier de 22c, Modèle 1827-1841 transformé

Vergleich der drei Kaliber 4, 12, 24

Sprenggranate (Obus ordinaire) und Schrapnell (Obus à balles ) des Vierpfünders

Das System La Hitte fand schnell ausgedehnte Verbreitung (u.a. in Belgien, Dänemark, Italien, Niederlande, Norwegen, Russland, Schweiz, und den Vereinigten Staaten von Nordamerika, später auch England nach Problemen mit den ersten Hinterladern), verlor jedoch im Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 rasch an Bedeutung (vor allem wegen unbefriedigender Trefffähigkeit und mangelhafter Geschosswirkung).

Noch während der Belagerung von Paris 1870 wurden dort ca. 300 bronzene 14pfünder Hinterlader nach einem bereits 1867 konstruierten Hinterlader-Modell des Oberst Reffye mit Schraubverschluss des Amerikaners Eastman gefertigt .

Unten:
Systeme der Artillerie im 19. Jahrhundert:
Kugel (Vorderlader Glattrohr),
Warzengranate System La Hitte (Vorderlader gezogenes Rohr),
preußische
Bleimantelgranate (Hinterlader gezogenes Rohr).

Souvenir an die Schlacht auf den Spicherer Höhen bei Saar- brücken im August 1870

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Hülse für 15 cm Turmhaubitze 95

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Bleihemdgranaten

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